Expert:innen Ecke J. Simon

1. Bezug zur digitalen Kunstvermittlung und zu Positionen der Kunstvermittlung (Wahrnehmungsaktivierung)

Das Museum als Ort, in dem Kunst, Wissen und Geschichte vermittelt werden, verliert in Zeiten der digitalen Selbstverständlichkeit immer mehr sein Alleinstellungsmerkmal (vgl. Sandabad, 2017, S. 1). Die neuen Technologien haben längst das Arbeitsfeld der Museen erobert. Digitale Medien und Ausdrucksformen gelten als verheißungsvolle Schlüsselwörter in der Kunstvermittlung. Sie versprechen neue Adressatengruppen, eine neue Besucheransprache, eine unterhaltsame Informationsvermittlung, neue Formen des Austauschs und eine vielversprechende Erlebnissteigerung (vgl. Gemmeke, John & Krämer, 2001, S. 183).

Doch wie können auch die eigene Wahrnehmung und Imagination der Beteiligten mithilfe der digitalen Medien angesprochen werden?

Die Darstellung des folgenden Projektes soll einen Einblick in das breitgefächerte Spektrum der digitalen Kunstvermittlung ermöglichen. Insbesondere die künstlerisch-ästhetischen Aspekte des Verfahrens der Verfremdung sollen an dieser Stelle betont werden. Es geht dabei auch um die Fragestellungen: Wie unterstützen die ausgewählten Medien den Ansatz einer wahrnehmungsorientierten Kunstvermittlung? Wie kann die Entstehung von visuellen Wahrnehmungseindrücken begründet werden? Und welche Relevanz hat die Vermittlungsidee für die Teilnehmer, die Jugendlichen? Bei dem hier vorgestellten Projekt handelt es sich um digitale Verfremdungen zu den Werken des aus Dresden stammenden Bildhauers, Zeichners und Autors Wieland Förster. Das Kunstvermittlungsprojekt ist das Ergebnis einer Kooperation der Universität Erfurt mit dem Angermuseum Erfurt.

2. Spezifik der ausgewählten Medien: Video, digitale Verfremdung und Forum

Für den Ansatz einer wahrnehmungsorientierten Kunstvermittlung erwiesen sich die Medien Video, die digitale Verfremdung und das Forum als besonders geeignet. Das Video als künstlerisches Medium zeichnet sich durch die Möglichkeit der elektronischen Bildaufzeichnung und gleichzeitigen, unendlich multiplizierbaren Bildwiedergabe auf unterschiedlichen Monitoren aus. Nach René Berger (Zielinski, 1992, S. 134) wurde in unserem Projekt die Kategorie des Mikro-Videos angewandt. Das Mikro-Video wird von einzelnen für einzelne gemacht und zum künstlerischen Bereich gezählt. Der Sinn dieser speziellen Art von Video besteht dabei in dem gegenseitigen Austauschen und Kommunizieren. Aufgrund der elektronischen Bildaufzeichnung unterscheidet sich das Video zudem in einem zentralen Punkt, der in anderen Medien des künstlerischen Ausdrucks wie Malerei, Theater oder analoge Fotografie in dieser Form grundsätzlich nicht vorhanden ist: Die elektronischen Möglichkeiten der Bildveränderung, -verzerrung oder -verfremdung sowie die verschiedenen Formen des Feedbacks sind künstlerisch nutzbare und vielfältige Möglichkeiten. Genauso können Farben „synthetisch“ hergestellt und verändert werden und zeitverzögerte Aufnahmen erzeugt werden (vgl. Zielinski, 1992, S. 134-135).

Für unsere Videofilme verwendeten wir das Verfahren der digitalen Verfremdung, das unter anderem mit der App „Mirror Lab“ erzeugt wurde. Das Ausgangsmaterial bildeten dabei Fotografien der Skulpturen. Bei der Verfremdung wird ein bekanntes Objekt auf eine Art und Weise dargestellt, dass es ungewohnt und oft auf den ersten Blick nicht erkennbar erscheint. Damit werden konventionelle Wahrnehmungen irritiert und Einordnungen in bekannte Schemata verhindert. Stattdessen kommt es zu einer bewussten, aktiven Wahrnehmung, die zu neuen Lesarten und Deutungen führt. Es handelt sich bei der Verfremdung um eine künstlerische Strategie, mit der Reflexionen und kritisches Hinterfragen unterstützt werden (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 226).

Ergänzend zu den Videofilmen steht den Beteiligten ganz bewusst das Forum zur Seite. Forum bedeutet Plattform für Diskussion und Auseinandersetzung. In den digitalen Verfremdungen wird eine Orientierung gegeben und zur kritischen Wahrnehmung angeregt. Urteilsfähigkeit, Wertebewusstsein und Kompetenz im Umgang mit neuen elektronischen Medien sind letztlich Schlüsselqualifikationen in nahezu allen Bereichen des Lebens, heute und noch viel mehr in der Zukunft. Die Vermittlung von Medienkompetenz ist daher ein zentraler Leitgedanke des Forums. Das Forum bietet noch weitere Vorteile: Sie unterstützt den bewussten Austausch der Jugendlichen untereinander, greift aktiv die Faszination der jungen Generation für Multimedia auf und fordert zur kreativen Gestaltung mit diesem Medium heraus (vgl. Gemmeke, John & Krämer, 2001, S. 186-188).

3. Kunstwissenschaftlicher Bezug

Im Rahmen des Seminars „Grundlagen der Kunstpädagogik und Kunstvermittlung“ beschäftigten wir uns mit verschiedenen wissenschaftlichen Positionen zur Kunstvermittlung. Die nachfolgenden Ausführungen sollen den theoretischen Hintergrund unseres Vermittlungsansatzes näher erläutern. Für die Wahl unseres Projektes „Skulpturen verfremdet“ beziehen wir uns zum einen auf die aktualgenetische Wahrnehmungskonzeption, die im Folgenden dargelegt wird.

3.1 Die aktualgenetische Wahrnehmungskonzeption

Der Begriff der Aktualgenese, durch Friedrich Sander 1926 begründet, meint das „aktuelle Werden von Gestalten in einem überschaubaren Erlebenszusammenhang“, der für unsere Arbeit mit dem Verfahren der digitalen Verfremdung essenziell ist (zitiert nach Graumann, 1959, S. 431). Grundlegend beschreibt die Aktualgenese rein deskriptiv das Erleben von Gestaltwerdung, sei diese alltäglich oder experimentell herbeigeführt. Ebenso deskriptiv sind die beiden Grundbegriffe der Vor- und Endgestalt. Von Vorgestalt sprechen wir dann, wenn etwas als nicht-endgültig Imponierendes bereits Qualitäten einer sich daraus entwickelnden endgültigen Gestalt aufweist und von Endgestalt nur, wenn etwas am Ende eines aktualgenetischen Verlaufs in Endgültigkeit erfasst wird. Die Voraussetzung für das Erlebnis der Entstehung einer Endgestalt ist stets das Vorausgehen einer Vorgestalt. Vorgestalt und Endgestalt erweisen sich demzufolge als interdependente Sukzessivglieder des aktualgenetischen Verlaufs (vgl. Graumann, 1959, S. 431-432).

Der aktualgenetische Forschungsansatz beschreibt Wahrnehmungsvorgänge als Entfaltungsprozesse, die aus einer Aufeinanderfolge verschiedener Stadien bestehen. Nach Carl-Friedrich Graumann ist dieser Entfaltungsprozess „gerichtet von einem Pol relativ ungegliederter (oft dynamischer) Ganzheit über Vorgestalten zu einem Pole durchgegliederter sinnvoller Gestaltetheit (Sinngestalten)“ (Graumann, 1959, S. 414). Die Aufeinanderfolge der einzelnen Stadien (Diffusität; Heraustreten einer ganzheitlichen, dominierenden Qualität; Mannigfaltigkeit; erschöpfende Gestalt) ist keine Summation. Die Endgestalt ist keine Summe der vorhergehenden Einzelstadien, vielmehr verbinden sich die einzelnen Stufen so, dass die vorangegangene in der folgenden aufgehoben wird. Der Prozess des Gestaltwerdens ist dabei zugleich als ein Prozess zunehmender Sinnerfüllung zu verstehen. Graumann betont, dass der aktualgenetische Entfaltungsprozess nicht kontinuierlich verläuft, sondern in Phasen, die oft sprunghaft auseinander hervorgehen (vgl. Huber, 1989, S. 59). Der Grundverlauf der Aktualgenese wird begrifflich klar nach der jeweiligen Grundmethode unterschieden. Sander schlägt vor, die von unverbundenen Details ausgehende Methode als merogen und, die von Anfang an ein Ganzes vorgebende als hologen zu bezeichnen. Die von uns verwendete Methode ist demnach hologenen Aufbaus (vgl. Graumann, 1959, S. 415). Detailliert beschreiben lässt sich dieser aktualgenetische Wahrnehmungsverlauf in seiner ersten Phase als „ganzheitliche Diffusität“ (Braunschweig, 1951) oder als „unsagbare, gefühlsartige, einfache Einheit“ (Ipsen, 1926), die zunehmend abgebaut und in Besonderes aufgespalten wird. In der zweiten Phase folgt die „Entfaltung dominanter Gestaltmerkmale“ (Braunschweig, 1951), das sogenannte „Hervortreten dominierender Qualitäten“ (Schwarz, 1932). Die dritte Phase des aktualgenetischen Wahrnehmungsverlaufs ist gekennzeichnet durch eine zunehmende „Durchgliederung“ (Braunschweig, 1951) oder auch „Ausgliederung“ (Schwarz, 1932) einer wahrgenommenen Mannigfaltigkeit, die in der vierten Phase zu einer „durchgegliederten Endgestalt“ (Schwarz, 1932) oder einer „Verfestigung und endgültigen Wiedergabe“ (Braunschweig, 1951) des Wahrgenommenen führt (vgl. Huber, 1989, S. 58-59).

3.2 Die Gestalttheorie nach Rudolf Arnheim

Eine weitere theoriebezogene Grundlage für unsere Überlegungen zu den digitalen Verfremdungen bildet die Gestalttheorie nach Rudolf Arnheim, die nachfolgend dargestellt wird.

3.2.1 Einführung in die Gestalttheorie

Die Gestalttheorie1 ist eine psychologische Schule, die sich mit dem ganzheitlichen Zusammenhängen menschlichen Erlebens und Verhaltens beschäftigt, und in deren Mittelpunkt die Frage nach der Ordnung seelischen Geschehens steht (vgl. Metz-Göckel, 2016, S. 21).

Sie entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge der Auseinandersetzung mit den assoziationistischen und elementaristischen Ansätzen der Psychologie. Ihr besonderes Interesse galt dabei den Wahrnehmungsphänomenen allgemeiner Natur, aber vor allem den kunstbezogenen Wahrnehmungsphänomenen, wozu Rudolf Arnheim einen wesentlichen Beitrag geleistet hat (vgl. Metz-Göckel, 2016, S. 21). Im Folgenden beziehe ich mich auf Rudolf Arnheims Auffassung von Gestalttheorie, wie er sie in seinem Buch „Kunst und Sehen“ verfasst hat.

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1 Die Begriffe „Gestalttheorie“ und „Gestaltpsychologie“ werden häufig gleichbedeutend verwendet. Dem Begriff „Gestalttheorie“ wird hier der Vorzug eingeräumt. Die „Gestalttheorie“ ist keine eigene oder besondere Psychologie (im Sinne des Begriffs „Gestaltpsychologie“), sondern eben eine Theorie der Psychologie und somit bescheidener (vgl. Guss, 1977, S. 6-7).

3.2.2 Die Gestalt

Arnheim definiert Gestalt als ein Wahrnehmen von Formen, was nicht gleichzusetzen ist mit Form. Vielmehr ist die Form die sichtbare Gestalt des Inhalts. Zum einen wird die Gestalt durch die Grenzen eines Gegenstandes bestimmt. Darüber hinaus wird die Gestalt eines Gegenstandes nicht nur durch seine Grenzlinien definiert; das von den Grenzlinien geschaffene Gerüst aus sichtbaren Kräften ist einflussnehmend, wie die Grenzen wahrgenommen werden (vgl. Arnheim, 1978, S. 50).

Er sieht bereits in der Wahrnehmung von Gestalt eine äußerst aktive Beschäftigung, die er mit „begreifen“ gleichsetzt. „Zum einen prägt sich die Welt der Bilder nicht einfach einem getreulich aufnehmenden Organ ein. Vielmehr greifen wir nach einem Objekt, wenn wir es ansehen. Mit einem unsichtbaren Finger bewegen wir uns durch den Raum um uns her und gehen zu entfernten Orten, wo Dinge zu finden sind; wir berühren sie, fangen sie ein, prüfen ihre Oberfläche, ertasten ihre Umrisse, erforschen ihre äußere Beschaffenheit“ (Arnheim, 1978, S. 46). Gestalt sehen bedeutet aber auch das Erfassen des Wesentlichen, d.h. das Erfassen der wichtigsten Merkmale eines Objektes. Genauer betrachtet, „[bestimmen] ein paar hervorstechende Merkmale nicht nur die Identität eines Wahrnehmungsdinges, sondern lassen es auch als ein vollkommenes, einheitliches Muster erscheinen. Das gilt nicht nur für unser Anschauungsbild von dem Objekt als einer Ganzheit, sondern auch für jeden einzelnen Teil, auf den sich unsere Aufmerksamkeit richtet“ (Arnheim, 1978, S. 47). Wahrnehmung funktioniert also immer zielstrebig und selektiv.

In der Wahrnehmungsgestalt selbst sieht Arnheim „das Ergebnis eines Wechselspiels zwischen dem physikalischen Gegenstand, dem Medium Licht als dem Übermittler von Information und den im Nervensystem des Betrachters herrschenden Bedingungen“ (Arnheim, 1978, S. 50). Wie wir eine Gestalt eines Gegenstandes wahrnehmen, hängt jedoch nicht nur von der Netzthautprojektion in einem bestimmten Moment ab. Streng betrachtet, wird das Bild von der Gesamtheit der Seherlebnisse bestimmt, die wir mit diesem Gegenstand oder mit dieser Art von Objekt in unserem ganzen Leben gemacht haben (vgl. Arnheim, 1978, S. 51). Dabei erkennt der normale Gesichtssinn die Gestalt ganz unmittelbar (vgl. Arnheim, 1978, S. 56). „Er begreift eine Gesamtstruktur“ (Arnheim, 1978, S. 56). Dabei wird sichtbar, dass die primären Erfahrungswerte Merkmale der Gesamtstruktur sind. Es werden vollständige Muster wahrgenommen, die dann mit im Gehirn gespeicherten Erfahrungen abgeglichen werden.

Die Wahrnehmung sammelt demzufolge keine Einzelfälle, sie bezieht sich nicht auf individuelle Sonderformen, sondern auf bestimmte Formtypen. Die Anfänge der Begriffsbildung liegen daher in der Formwahrnehmung. Formwahrnehmung ist für Arnheim das Erfassen von hervorragenden Struktureigenschaften. Wahrnehmen bedeutet demnach bei Arnheim auch das Bilden von Wahrnehmungsbegriffen. Das Rohmaterial der Wahrnehmung entspricht dabei nicht dem, wie es die Wahrnehmung aufnimmt. Ein Gegenstand kann nur erfasst werden, wenn sein Wahrnehmungsbild in eine Form eingepasst werden kann (vgl. Arnheim, 1978, S. 47-49). Das Sehen schafft „Muster aus allgemeinen Formen“, die auf eine unbestimmte Zahl ähnlicher Fälle übertragbar sind, daher erfüllt der Sehvorgang für ihn die Bedingungen der Begriffsbildung (Arnheim, 1978, S. 47).

Mit dem Wort „Begriff“ meint Arnheim keineswegs eine rein verstandesmäßige Tätigkeit. Die beschriebenen Vorgänge laufen innerhalb des visuellen Bereichs des Nervensystems ab. Das Wort „Begriff“ soll auf eine auffallende Ähnlichkeit verweisen (vgl. Arnheim, 1978, S. 49-50). „Die Wahrnehmung vollbringt auf der sinnlichen Ebene, was im Bereich des Denkens Verstehen genannt wird. Im Sehen nimmt jedermann auf bescheidene Art und Weise die zurecht bewunderte Fähigkeit des Künstlers vorweg, Muster zu erzeugen, die mittels gestalteter Form eine gültige Interpretation von Erfahrung liefern“ (Arnheim, 1978, S. 50). Arnheim gelangt zu der Erkenntnis: „Sehen ist Einsehen“ (Arnheim, 1978, S. 50).

3.2.3 Die Gestaltgesetze

Nach der bisherigen Darstellung des Begriffs der Gestalt soll es nun um die Frage gehen, wie solche Gestalten überhaupt zustande kommen. Anders gefragt: Wie kommt es, dass aus der Reizmannigfaltigkeit und Reizfülle bestimmte Gestalten entstehen, die sich von ihrer Umgebung mehr oder weniger scharf abgrenzen? Warum sehe ich Gegenstände und Personen, die sich von einem Hintergrund abheben, und nicht einfach eine ungeordnete Fülle einzelner Punkte? Die Antwort der Gestalttheorie lautet: Die vorgefundene Ordnung der wahrgenommenen Welt ist das Ergebnis des Zusammenwirkens bestimmter Gesetze oder besser bestimmter Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Teile zu Gestalten zusammenschließen und deshalb Gestaltgesetze genannt werden (vgl. Guss, 1977, S. 9). „Der Zusammenschluß erfolgt derart, daß die entstehenden Ganzen in irgendeiner Weise vor anderen denkbaren Einteilungen gestaltlich ausgezeichnet sind“ (zitiert nach Guss, 1977, S. 9). Der Zusammenschluss von Teilen zu einem Ganzen erfolgt demzufolge nach Maßgabe der größtmöglichen Ordnung. Insofern dieser Zustand der größtmöglichen Ordnung als „ausgezeichnet“ oder „prägnant“ bezeichnet wird, sind Gestaltgesetze immer Prägnanzgesetze (vgl. Guss, 1977, S. 9). Die wichtigsten Gesetze sind bereits durch Max Wertheimer 1923 belegt worden. Wolfgang Metzger hat sie 1966 in einer zusammenfassenden Abhandlung zu sieben Gesetzen gruppiert:

  1. Gesetz der Gleichartigkeit: Gleichartige Elemente in Bezug auf Form, Farbe, Helligkeit etc. werden eher gruppiert.
  2. Gesetz der Nähe: Nahe Elemente werden gruppiert.
  3. Gesetz des gemeinsamen Schicksals: Beispielsweise in die gleiche Richtung bewegte Elemente werden gruppiert.
  4. Gesetz der Voreinstellung: Sind bereits Elemente nach einem bestimmten Prinzip organisiert, so wird ein hinzukommendes n + 1– Element nach demselben Prinzip gruppiert.
  5. Gesetz des Aufgehens ohne Rest: Alle Elemente werden in eine Gruppierung miteinbezogen.
  6. Gesetz der durchgehenden Linie: Wenn es möglich ist, wird eine Linie stetig – also geradlinig oder der Krümmung folgend – fortgesetzt.
  7. Gesetz der Geschlossenheit: Elemente, die eine geschlossene Figur ergeben, werden eher gruppiert (vgl. Müsseler & Rieger, 2017, S. 31).

Der Begriff der Gestaltgesetze ist bei Rudolf Arnheim selbst nicht zu finden, obwohl er in seinem Buch „Kunst und Sehen“ eine ausführliche Beschreibung und Begründung dieser Gestaltgesetze vornimmt. Von den zahlreichen untersuchten und mitgeteilten Gestaltgesetzen seien hier zudem der Bezug zur „Einfachheit“„Figur und Grund“ und der „Einfluss der Vergangenheit“ näher erläutert, der mir für das Verständnis der Gestalttheorie und im Rahmen des Kunstvermittlungsprojektes besonders bedeutsam erscheint.

Einfachheit

Das Gesetz der Einfachheit besagt, dass eine Wahrnehmung umso deutlicher ist, je kongruenter Form und Inhalt sind, und zwar in dem Sinn, dass die Form nicht komplizierter ist als der transportierte Inhalt notwendig macht. Arnheim propagiert also ein „ökonomisches Prinzip“ (Arnheim, 1978, S. 61). Das „ökonomische Prinzip“ ist insoweit auf den ästhetischen Bereich anwendbar, dass auch der Künstler nicht über das hinausgehen soll, was er zu seinem Zweck benötigt. Er folgt dem Beispiel der Natur, die nach Worten Isaac Newtons „nichts vergeblich tut, und ein Mehr ist vergeblich, wenn weniger genügt […]“ (Arnheim, 1978, S. 62). Die strukturelle Übereinstimmung zwischen Bedeutung und der sichtbaren Gestalt nennt man in der Gestalttheorie „Isomorphismus“ (Arnheim, 1978, S. 65).

Folglich geht es darum, ein Werk so „einfach“ wie möglich zu gestalten. Rudolf Arnheim warnt aber davor, den Begriff der Einfachheit mit Banalität gleichzusetzen, da die Einfachheit die Komplexität nicht ausschließt. Die Kunstwerke Wieland Försters sind vielschichtig, aber wir rühmen sie dafür, dass sie „Einfachheit besitzen“, was nichts anderes bedeutet, als dass sie eine Fülle an Bedeutung und Form in eine Gesamtstruktur einordnen, die jedem Detail ganz bewusst seinen Platz und seine Funktion in der Ganzfigur zuweist. Es geht also vielmehr um relative Einfachheit, die auf jeder Stufe von Vielschichtigkeit angewendet werden kann, als Prinzip der Sparsamkeit und Ordnung (vgl. Arnheim, 1978, S. 61-62).

Als Nachweis der Vereinfachung kann das von Leonardo da Vinci beobachtete Prinzip des räumlichen Abstands auf die Verfremdung des „Kleinen trauernden Mannes“ angewandt werden. Die Gestalt des „Kleinen trauernden Mannes“ sieht zu Beginn durch die Verfremdung wie ein kleiner, ovaler, dunkler Körper aus. Er erscheint oval, weil die Verfremdung die einzelnen Teile so stark abschwächt, dass schließlich nichts außer der größeren Masse sichtbar bleibt. Warum lässt die Vereinfachung den Betrachter eine ovale Form sehen? Die Antwort ist, dass der Verfremdungseffekt den Reiz so stark abschwächt, dass ihm der Wahrnehmungsmechanismus nur die einfachste Form aufzwingen kann, die möglich ist – nämlich das Ei als Spezialform des Kreises (vgl. Arnheim, 1978, S. 66). Und schließlich ist das Ei für Wieland Förster „[…] die vitalste bildhauerische Grundform“ (Schierz & Von Taschitzki, 2020, S. 32-33).

Figur und Grund

Beim Betrachten der unterschiedlichen Verfremdungen bemerken wir, dass immer ein Teil vor anderen in ausgezeichneter Weise hervortritt. Dieser Teil wird technisch als Figur bezeichnet, der Rest als Grund. Die Differenzierung nach Figur und Grund ist die einfachste und primitivste Form wahrnehmungsmäßiger Gestaltung. Die Unterscheidung von Figur und Grund ist laut Arnheim wesentlich, da die zugehörigen Wahrnehmungsqualitäten verschieden sind. Die Figur ist allgemein von einem Rand abgegrenzt, besser lokalisiert, massiver und stärker integriert, wogegen der Grund unbestimmt und als weniger durchstrukturiert erscheint. Die Figur scheint räumlich vor dem Grund oder auf dem Grund zu liegen, und der Grund scheint sich durchgängig auch hinter der Figur auszudehnen. Die Figur wirkt zudem mehr als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit innerhalb der Darstellung (vgl. Arnheim, 1978, S. 223-225).

Damit wir überhaupt eine Figur erkennen können, ist normalerweise das Vorhandensein einer Kontur notwendig. Eine Funktion der Kontur ist, der Figur eine erkennbare Form zu verleihen (vgl. Krech & Crutchfield, 1968, S. 74). In den Videos „Arkadischer Akt“„Mittlere Daphne I“ und „Kleiner trauernder Mann“ findet sich diese Grenzfunktion der Kontur wieder, bei denen der Grund viel einfacher gestaltet ist, als die Figur. Gegenüber dem Grund besitzen die Skulpturen eine größere Eindringlichkeit, sie, nicht der Grund, bestimmen unsere Reaktion, sie haften viel besser im Gedächtnis (vgl. Metz-Göckel, 2016, S. 64).

Der Einfluss der Vergangenheit

Dieses Gesetz setzt sich mit der Bedeutung von Erfahrungswerten in der Wahrnehmung auseinander. Jede Seherfahrung ist in einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang eingebettet. So wie die äußere Erscheinung von Objekten vom Aussehen räumlich naheliegender Objekte maßgeblich beeinflusst wird, steht sie zudem unter dem Einfluss zeitlich vorausgegangener Seherfahrungen. Was die Teilnehmer in den „Verfremdungen“ sehen, ist demnach die Summe dessen, was sie in der Vergangenheit schon einmal gesehen haben (vgl. Arnheim, 1978, S. 52). Die Voraussetzung für die Formbeziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit formuliert Gaetano Kanizsa zutreffend: „Wir haben uns mit den Dingen unserer Umgebung gerade deshalb so vertraut machen können, weil sie sich durch Kräfte eines Wahrnehmungsfeldes in uns festsetzten, die vor der Seherfahrung und unabhängig von ihr wirkten; erst so gaben sie uns die Möglichkeit, sie zu erfahren“ (Arnheim, 1978, S. 52). Zudem muss eine Beziehung zwischen der Form des gegenwärtigen Objekts und der Form früher wahrgenommener Dinge bestehen. In den „verfremdeten“ Videofilmen wird eine verbale Beschreibung der Originalfigur gegeben, die den Betrachter in die Richtung einer menschlichen Gestalt lenkt. Rudolf Arnheim weist darauf hin, dass Gedächtnisspuren vertrauter Objekte die Wahrnehmungsform beeinflussen und sie ganz unterschiedlich erscheinen lassen können, falls die Struktur der Wahrnehmungsform das zulässt. Die meisten Reizstrukturen sind nämlich in irgendeiner Weise mehrdeutig. Die „Mittlere Daphne I“ kann ganz unterschiedlich aufgefasst werden, da sie uns einen Spielraum lässt, in dem Erfahrungen der Vergangenheit und die Erwartung bestimmen können, ob wir eine weibliche Figur oder schon einen Baum sehen (vgl. Arnheim, 1978, S. 52-53).

Der Einfluss der Erinnerung wird noch stärker, wenn ein starkes persönliches Bedürfnis im Betrachter den Wunsch auslöst, Gegenstände mit bestimmten Wahrnehmungseigenschaften zu sehen. Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich meint: „Je größer die biologische Bedeutung eines Objektes für uns ist, desto mehr sind wir auf das Erkennen eingestellt – und desto anspruchsloser sind wir daher in bezug auf formale Übereinstimmung“ (Arnheim, 1978, S. 54).

Die Implikation dieser Aussage ist beim genaueren Hinsehen brisant, da sie aussagt, dass, wenn etwas für uns sehr wichtig ist wahrzunehmen, wir keine genaue Übereinstimmung brauchen, um ein Objekt so zu identifizieren, wie wir es erwarten, ohne dabei die genaue Überprüfung durch die Realität abzuwarten (vgl. Arnheim, 1978, S. 54).

3.2.4 Kritische Betrachtung der Gestalttheorie

Die Gestaltpsychologen gingen den Gesetzen nach, wie Wahrnehmung organisiert ist. Dabei orientierte sich ihr Vorgehen an einer durch Kurt Koffka (1935) berühmt gewordenen Frage: Warum sehen die Dinge so aus, wie sie aussehen? Ihre Antwort in Form der Gestaltgesetze ist heute noch allgegenwärtig und bereits in Abschnitt 3.2.3 dargelegt worden. Dort ist auch erwähnt worden, dass die Gestaltgesetze einem übergeordnetem Organisationsprinzip, dem sogenannten Prägnanzprinzip, folgen. Dabei handelt es sich um die Tendenz zur einfachsten, stabilsten und besten Gestalt (vgl. Müsseler & Rieger, 2017, S. 39).

Das Prägnanzprinzip entzündete auch die Kritik an der Gestalttheorie. Auf Seiten der Gestaltpsychologen hatte man es versäumt, die Kriterien zu determinieren, wann und unter welchen Bedingungen die einfachste, stabilste und beste Gestalt vorliegt. Das Fehlen der Kriterien wird vor allem in strittigen Reizkonstellationen offensichtlich, in denen im Vornherein nicht klar ist, was womit gruppiert wird (Abb. 1). Es wird in solchen Fällen zwar mit dem Prägnanzprinzip argumentiert, jedoch häufig nur im Nachhinein und oft nur aufgrund introspektiver Eindrücke. Der Vorwurf scheint deshalb berechtigt, dass zu mindestens die früheren Gestaltpsychologen mehr beschrieben als erklärt haben (vgl. Müsseler & Rieger, 2017, S. 39).

Abb. 1: Gesetz der durchgehenden Linie: Welche Elemente werden miteinander gruppiert? Im oberen Teil werden ein Kreuz und eine Raute wahrgenommen, selten aber der Überlappungsbereich beider Figuren, der einen nach oben gerichteten Pfeil oder ein Haus offenbart (in: Müsseler & Rieger, 2017, S. 31)

Aus diesem Grund könnte man infrage stellen, ob die Gestalttheorie überhaupt die Kriterien einer wissenschaftlichen Theorie erfüllt. Auf der Basis der vorliegenden Ausführungen ist dieser Zweifel durchaus berechtigt, obgleich zugestanden werden muss, dass die verschiedenen gestalttheoretischen Ansätze und ihre Hauptströmungen hier notwendigerweise unterspezifiziert bleiben müssen. Wolfgang Köhler (1958), einer der Begründer der Gestalttheorie, hat beispielsweise versucht, eine Theorie aufgrund von Prinzipien zu formulieren, die in spezifischen hirnphysiologischen Ideen präzisiert wurde. Dieser Ansatz erscheint aus heutiger Sicht sehr abstrakt (vgl. Müsseler & Rieger, 2017, S. 39).

Jedoch würde man der Gestalttheorie nicht gerecht, wenn man sie als historisch überkommene und wissenschaftlich wertlose Strömung bezeichnen würde. Die durch sie aufgeworfenen Fragen werden – wenn auch mit anderen Ausgangspunkten und Mitteln – durchaus weitergeführt. Zudem existieren moderne Zugänge zur Gestalttheorie, die den subjektiv beschriebenen Charakter der früheren Gestaltpsychologen erweitern. Des Weiteren blieben gestalttheoretische Ideen nicht nur auf den Bereich der Wahrnehmungsforschung beschränkt. Auch in der Denk- und Motivationspsychologie finden sich Überlegungen, die aus der gestalttheoretischen Tradition hervorgegangen sind (vgl. Müsseler & Rieger, 2017, S. 39).

4. Reflexion der Relevanz der Vermittlung für die Zielgruppe Jugendliche

Die Erfahrungen von Welt sind prinzipiell ästhetisch2, das heißt sie beruhen auf unterschiedlichen Wahrnehmungsprozessen wie Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken und der Empfindung des eigenen Körpers. Aber auch die eigene Konstruktion von Welt z. B. in Form innerer Bilder, Klänge oder Stimmen meint eine ästhetische Dimension (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 222). Daraus resultierend sollte die erfahrungsbasierte Bildung von Jugendlichen mit dem Ziel der „Verknüpfung von Ich und der Welt“ nicht ausschließlich auf kognitive, sondern auch auf sinnliche und die Wahrnehmung ansprechende Prozesse beruhen (Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 222).

Bezugnehmend zu der von uns ausgewählten Zielgruppe der Jugendlichen zeigt der Bildungsbereich „Künstlerisch-ästhetische Bildung“ auf, welche Potentiale der aktive, wahrnehmungsorientierte Umgang mit verschiedenen Ausdrucksformen bietet, um Teenager in ihren Selbstbildungsprozessen zu unterstützen. Dabei muss die künstlerisch-ästhetische Bildung auf die jeweilige Lebenswelt von Jugendlichen bezogen sein (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 222-223). Digitale Medien wie die digitale Fotografie, die digitale Verfremdung und das digitale Video besitzen als Ausdrucksmedien eine große Bedeutung und gelten durch ihre Nähe zur populären Kultur vor allem bei Jugendlichen als beliebt (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 233). Das Kennenlernen von Werken des Künstlers Wieland Förster kann helfen, ernsthafte Themen wie Trauer, Schmerz und Krieg auf der einen Seite und Sinnlichkeit, Schönheit und Lebenslust auf der anderen Seite zu kommunizieren, die „das Fremde in den Jugendlichen“ in den Fokus rückt (Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 223). Die zunächst unbekannten und vielleicht irritierenden Verfremdungen sprechen den Erfahrungs- und Lebenshorizont von Teenagern durchaus an. Sie entdecken ihnen Vertrautes in neuen Zusammenhängen und es interessiert sie, welcher Sinn dahintersteckt. Wahrnehmungsorientierte Fragestellungen regen sie an, zu imaginieren, sich Geschichten dazu auszudenken und die dingliche und räumliche Alltagswelt anders als gewohnt wahrzunehmen (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 223).

Die Ablösung vom Elternhaus und die damit verbundene Hinwendung zur Gruppe der Gleichgesinnten und Gleichgestellten, der Peergroup, trägt oft zum Rückzug aus institutionellen Bildungsangeboten bei. Dies zeigt sich z.B. in den von Teenagern weniger besuchten Angeboten im Freizeitbereich der Ganztagsschule sowie der Jugendkunstschulen. Mit unserem Kunstvermittlungsprojekt wollen wir deshalb ein attraktives Angebot für Jugendliche schaffen, das eine zunehmende Eigenständigkeit berücksichtigt und sich an stilistischen Vorlieben der Zielgruppe orientiert z.B. das Anfertigen eines Selbstporträts purer Lebenslust zum „Arkadischen Akt“ (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 233).

Auch sollten Gruppenaktivitäten in Peergroups möglich sein. Um diese kulturellen Prozesse zu unterstützen, wurde für die Jugendlichen ein entsprechender „Raum“ für ästhetische Erfahrungen, künstlerische Praxis und die Begegnung mit „Gleichgesinnten“ zur Verfügung gestellt. Das Forum bietet als „Kunstraum“ die Gelegenheit künstlerische Produktionen von den Jugendlichen z.B. Malereien, Zeichnungen, Texte, Videos u.a. zu zeigen. Der „Kunstraum“ wird dabei nicht nur zur Verfügung gestellt, sondern durch die digitale Kommunikation und Interaktion der Teilnehmenden gebildet. Somit wird eine Gruppenidentität angesprochen, welche die Entwicklung des Ichs im Austausch mit der Gesellschaft fördert (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 223).

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„Ästhetisch“ bezieht sich in diesem Fall auf das griechische Wort „aisthesis“ und meint die Lehre von der sinnlichen, körperlichen Wahrnehmung und Empfindung (Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 222).

5. Auswertung von Rückmeldungen

Aufgrund der zeitlich begrenzten Durchführungsdauer des Kunstvermittlungsprojektes und der zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorgesehenen Veröffentlichung der Ergebnisse wurde das Projekt lediglich mit Studierenden der Universität Erfurt durchgeführt. Die Umsetzung des Projektes zu einem späteren Zeitpunkt mit der Zielgruppe der Jugendlichen ist vorgesehen. Von den bisherigen Teilnehmern erhielten wir in Form einer Umfrage und der Kommentarfunktion hilfreiche Rückmeldungen. An der Online-Umfrage beteiligten sich insgesamt drei Besucher der Kunstvermittlungsseite. Unter der Fragestellung: „Welche Verfremdungsart inspiriert euch am meisten und warum?“ konnten die Teilnehmer in Form einer Rangfolge abstimmen und ihre Entscheidung mithilfe der Kommentarfunktion begründen. In der Umfrage wurde die „Drehbewegung zum Arkadischen Akt“ mit zwei Teilnehmerstimmen als Favorit ausgewählt. Doch auch die Verfremdung zur „Mittleren Daphne I“ wurde einmal als inspirierendste Verfremdungsart bestimmt. Die resultierende Rangfolge der verfremdeten Skulpturen spiegelt sich auch in den Kommentaren wider. Eine Rückmeldung zur „Drehbewegung zum Arkadischen Akt“ weist darauf hin, dass die auditive Begleitung besonders hilfreich für das Verständnis der formalen Beziehungen innerhalb der skulpturalen Körper und ihrer Beziehung zum Raum ist. Zudem würden nach Ansicht der Kommentatoren die Videos durch ihre „sculptures-body compositions“ die traumatischen Erlebnisse des Künstlers Wieland Förster übersetzen. In einem anderen Kommentar zur Verfremdung der „Mittleren Daphne I“ wird die favorisierte Verfremdungsart folgendermaßen begründet: „Zum einen hat der Verfremdungseffekt bestens zum Text gepasst und die Spannung zum tatsächlichen Bild wurde lange aufrechterhalten.“ Nach heutigem Stand können nur diese Auswertungen vorgenommen werden. Auf die Zukunft bezogen, wäre es wünschenswert, das Projekt auch mit der vorgesehenen Zielgruppe der Jugendlichen durchzuführen. Eine größere Teilnehmerzahl würde mehr Aufschluss über die Wirkungen der unterschiedlichen Verfremdungsarten auf den Betrachter geben. Außerdem könnte das Forum als „Kunstraum“ noch stärker genutzt werden, um den bewussten Austausch der Jugendlichen untereinander zu unterstützen und die künstlerischen Produktionen zu zeigen.

6. Resümee

Das digitale Kunstvermittlungsprojekt „Skulpturen verfremdet“, das den Ansatz einer wahrnehmungsorientierten Kunstvermittlung verfolgt, veranschaulicht ein Vorgehen, das die konkreten Darstellungs- und Sinnbezüge eines Werkes aufgreift und jugendgerecht vermittelt. Die ausgewählten digitalen Medien – Video, Verfremdung wie Forum – eröffnen ein großes Spektrum an neuen Arbeits- und Erfahrungsmöglichkeiten. Das Verfahren der Verfremdung bietet die Möglichkeit, die Art und Weise der eigenen Wahrnehmung und damit der eigenen Konstruktion von Welt zu untersuchen und zu erweitern (vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, 2015, S. 226). Zentral ist, dass die Jugendlichen auf vorhandene Erfahrungen und Themen – wie Trauer und Schmerz, aber auch Liebe und Schönheit – unmittelbar zurückgreifen können und Resonanzen zwischen ihrer Lebenswelt und den Sinnangeboten der Kunst finden. Die Verfremdungen dienen dabei als Inspiration, sie eröffnen Möglichkeiten der gedanklichen und gestalterischen Auseinandersetzung mit dem Originalwerk und der individuellen Auslegung. Schlussfolgernd ergeben sich durch eine wahrnehmungsorientierte Kunstvermittlung zwei positive Aspekte: Zum einen findet eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit den konkreten Intentionen, Ausdruckmitteln, Symbolbezügen des Künstlers statt (vgl. Uhlig & Wahner, 2012, S. 8). Der Sinn des Kunstwerks wird nicht „verbogen“ (Uhlig & Wahner, 2012, S. 8). Dies fließt zum anderen in die gestalterische Praxis der Teilnehmer ein und verhindert so den unreflektierten Nachvollzug einer künstlerischen Ausdrucksform (vgl. Uhlig & Wahner, 2012, S. 8).

Literaturverzeichnis

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Graumann, C.-F. (1959): Aktualgenese. Die deskriptiven Grundlagen und theoretischen Wandlungen des aktualgenetischen Forschungsansatzes in: Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie 6. Göttingen: Verlag für Psychologie. S. 410-448.

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Sandabad, M. (17. April 2017): Kunstvermittlung in der digitalen Gegenwart. Von Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/serie-kunst-stoffe-kunstvermittlung- in-der-digitalen.691.de.html?dram:article_id=383951 abgerufen

Schierz, K. U., Von Taschitzki, T. (2020): Wieland Förster. Skulpturen und Zeichnungen. Zum 90. Geburtstag des Bildhauers. Bonn: Mitteldeutscher Verlag.

Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.) (2015): Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre. Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen. Erfurt: donner+friends.

Uhlig, B., Wahner, S. (Mai 2012): Kunstpädagogische Kunstvermittlung. Von Kulturmanagement: https://www.kulturmanagement.net/dafc0c1febacdf5f2c9a80d7e47db9eb,0fm.pdf abgerufen

Zielinski, S. (1992): Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader. Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang.